Ein Freund erzählte mir kürzlich, dass er bis zu zwanzig verschiedene Tabs öffnet, versucht den perfekten Moment zu finden, um dann von dort aus das Video so abzuspielen, dass er bei seinem Höhepunkt diesen perfekten Moment sieht. Nüchtern betrachtet würde ihm genau ein Porno reichen, um zu kommen. Das weiß er auch. Doch er ist pornosüchtig.
Er muss den perfekten Porno-Moment finden und hat Angst davor, dass die erste Wahl nicht so befriedigend sein könnte, wie die zweite, dritte, vierte oder zwanzigste. So klickt er sich auf der Suche nach dem perfekten Moment von Sexfilm zu Sexfilm, nur um kurz nach dem Höhepunkt in Scham zu baden. Mein Freund ist nicht nur pornosüchtig. Er leidet auch an FOMO. [Den Artikel gibt es auch zum Hören → am Ende des Beitrags]
Sinnlos: Fear Of Missing Out
FOMO steht für Fear Of Missing Out – die Angst, etwas zu verpassen. Den perfekten Partner. Den perfekten Job. Oder wie bei meinem pornosüchtigen Freund: den perfekten Porno. Die Angst, etwas zu verpassen begleitet uns ein Leben lang. In Wahrheit begleitet sie den Homo sapiens schon sein Leben lang. Es ist kein Phänomen des 21. Jahrhunderts; App-Entwickler sind nicht schuld daran. Philosophen verschiedener Epochen befassten sich mit dem Thema, wenn auch nicht als Fear Of Missing Out bezeichnet. Wie andere unangenehme Gefühle auch, erfüllte diese spezielle Angst für unsere Vorfahren eine Funktion. Sie trieb Gruppen früher Menschen an, ließ sie an ein besseres Morgen glauben, führte sie an einen Ort, der mehr Essen und Trinkwasser bereithielt – oder den Tod. Aber sie sorgte für Weiterentwicklung. Die Angst, eine Gelegenheit zu verpassen, die die Überlebenschancen steigern würde, ist vielleicht erst der Grund, warum ich heute über FOMO schreiben kann. Ein paar tausend Jahre und Aufstiege in der Maslow’schen Bedürfnispyramide später, interpretieren wir viele ehemals überlebensnotwendige Gefühle falsch. Wir nennen sie Depression, Heißhunger, Angst. Früher waren es Überlebensversicherungen. Wir haben die Evolution nicht bis heute überlebt, weil wir eine Reihe von Fehlern im System spazieren tragen. Wir sind nicht die B-Ware der Evolution. Unser modernes Leben, fernab unserer natürlichen Lebensumstände, erweist sich als Verstärker unangenehmer Gefühle, die einst unser Überleben sicherten. Soziale Isolation führt zu Depression? Kein Wunder, denn für Paul im zweiten Jahrtausend vor Christus hieß dieser Zustand: Du wirst sterben. FOMO macht uns zu schaffen? Früher entschied Verpassen und Nicht-Verpassen über Leben und Tod. Wer zu spät kam, starb zuerst. Heute leben wir am All-You-Can-Eat-Buffet der Möglichkeiten. Es geht nicht mehr um Leben und Tod, sondern darum, ob deine Wahl im Restaurant nun die richtige war oder die deines Partners. Überall sehen wir, was wir erleben, kaufen, wohin wir reisen, mit wem wir Sex haben, womit wir unser Geld verdienen könnten. Wir erlauben uns gar nicht mehr die Frage zu stellen: Will ich das überhaupt? Es wäre doch zu schade, diese und jene Möglichkeit ungenutzt zu lassen. Viele von uns wissen nicht, was sie wollen, wer sie sind, ja nicht einmal, was sie können. Dafür wissen wir bestens über die Talente, Träume, Urlaube, Trophäen, Partyleben, Traumpartner und Vermögen Anderer Bescheid. Wir sind ja immer hautnah dabei, allzeitige Vernetzung sei Dank. Und so wird uns die Fear Of Missing Out direkt ins Hirn projiziert, jedes Mal, wenn wir unsere Daumen nach oben wischen und an all dem vorbeirauschen, was wir in diesem Moment nicht haben.
Wir wurden durch das Fernsehen aufgezogen in dem Glauben, dass wir alle irgendwann mal Millionäre werden, Filmgötter, Rockstars. Werden wir aber nicht. Und das wird uns langsam klar. Und wir sind kurz, ganz kurz vorm Ausrasten. – Brad Pitt als Tyler Durden in Fight Club
Sinnvoll: Die Angst, das Leben zu verpassen

Wir könnten es verpassen. Ja, was eigentlich? Und ist es überhaupt etwas, das wir wollen? Die meisten Dinge, die wir verpassen, sind es würdig verpasst zu werden. Es ist nichts, was wir wirklich brauchen oder wollen. Die meisten Nachrichten sind belanglos. Die meisten Surprising Facts werden wir uns nie merken. Partybilder von Freunden bringen uns nichts, außer die Gewissheit, nicht dabei gewesen zu sein.
Gönnen wir ihnen doch ihren Spaß und schalten ab, schauen weg, schauen in uns rein. Introspektion statt Möglichkeits-Voyeurismus. Wir können nur Angst davor haben, die Dinge zu verpassen, von denen wir wissen, dass wir sie verpassen könnten. Das war vielleicht der große Vorteil all der Generationen vor uns. Jemand der nicht wusste, dass er Influencer hätte werden können, wäre er nur 500 Jahre später geboren, war zufrieden mit seinem Leben als Bäcker. Das reicht uns heute aber nicht mehr.
So springen wir von Job zu Job, wechseln unsere Leidenschaften wie Tinder-Bekanntschaften, wollen heute Yogalehrer sein und morgen Start-up-Gründer. Wir probieren alles mal aus, reden uns ein, dass wir das den Generationen vor uns schuldig wären, die uns ein so tolles All-You-Can-Eat-Buffet der Möglichkeiten ermöglicht haben, erfinden uns im Wochenrhythmus neu und bekommen schweißnasse Hände, wenn wir merken, dass wir dabei sind, etwas ab- oder auszuschließen. Unendlich viele Möglichkeiten wollten wir. Nun haben wir sie und wünschen uns manchmal, still und heimlich, die gute alte Zeit zurück, als wir uns noch keine Gedanken über Entscheidungsmüdigkeit machen mussten. Die Angst hat unsere Identität bei den Eiern gepackt und drückt immer fester zu.
Wir spüren es, FOMO tut uns nicht gut. Diese hinterlistige Angst führt zur Illusion, wir würden uns entwickeln. In Wahrheit lähmt sie uns. Wir glauben zwar, dass wir uns weiterentwickeln, doch tatsächlich springen wir wie ein Flummi in der Unendlichkeit der Möglichkeiten hin und her. Bewegung in eine x-beliebige Richtung ist nicht immer zielführend. Und das All-You-Can-Eat-Buffet? Das gewinnt immer. Der Appetit war mal wieder größer als der Bauch. Was wir gegen diese lähmende Angst tun können? Eine FOMOphobie ausbilden, die Aversion gegen die Angst, etwas zu verpassen. Dafür müssen wir wissen, was wir wollen. Wir müssen uns mit uns selbst beschäftigen, statt uns dauernd anzuschauen, welche Möglichkeiten wir noch angehen könnten. Wir müssen Nein sagen.
Nein zu fremden Träumen. Nein zu Dingen, die wir nur tun würden, um in anderen FOMO auszulösen. Die Krux an der Sache ist, das für dich perfekte Maß zwischen FOMO und Genügsamkeit zu finden. Wenn wir wissen, was wir wollen, können wir immer noch recherchieren, welche Möglichkeiten es gibt, das zu erreichen, was wir erreichen wollen. Wenn der Kompass ausgerichtet ist, kann uns FOMO sogar nützlich sein. Wie unseren Vorfahren, deren Kompass auf Überleben stand. Wir dürfen FOMO nicht unser Leben bestimmen lassen. Die einzige Angst, die wir haben sollten, ist die das Leben zu verpassen. Unser Leben zu verpassen.
„All-You-Can-Eat-Buffet der Möglichkeiten“, ha! guter Ausdruck! so ist das nämlich leider. toll eigentlich, dass man so viele Auswahlmöglichkeiten hat heutzutage in jeglicher Hinsicht, aber je mehr man davon hat, desto schneller fühlt man sich auch überfordert und wahlloser.
FOMO ist das einzige, das mich derzeit noch bei Fb hält. viel zu oft erwische ich mich letzte Zeit wieder bei der sinnlosen Scrollerei. mein selbstauferlegter Verzicht auf Social Media in dem Maße, dass ich nur einmal täglich am Abend mich dort einlogge, hat in der Prüfungsphase recht gut funktioniert, jetzt in der vorlesungsfreien Zeit hapert’s aber mal wieder gewaltig an der Umsetzung. und FOMO und dem Verpassen von von Veranstaltungen oder Konzerten hält mich derzeit noch dort. Ich mag, was du im letzten Absatz schreibst und die Analogie mit dem Kompass. ich sollte mir mal andere Wege suchen an diese Art von Informationen zu kommen, die ich am wenigsten auf Fb verpassen möchte, und dann sollte ich mich auch einmal einer Pause unterziehen so wie du derzeit 🙂
Viel Erfolg weiterhin! 🙂
Liebe Claudia,
danke für deinen ehrlichen Einblick. Wir hatten ja mal gequatscht und der Grund, warum ich gleich ein Jahr komplett verzichten will, ist der, dass ich sicher bin, dass ich ansonsten zu oft schwach geworden wäre. Ich kann es dir nur empfehlen: Verpassen wirst du ohnehin (fast) nur, was des Verpassens würdig ist.