Digitaler Minimalismus – pah! Darüber hätte ich vor einem Jahr nur gelacht. Wer braucht denn sowas, hätte ich geschnauzt und dabei insgeheim gewusst: Ich. Ich brauche sowas.
Zunächst will ich Minimalismus definieren, bevor ich – in alter Digital Native-Manier – ein Digital davor hänge. Viel wird über Minimalismus gesprochen und es gibt eine Menge sehr guter Beiträge zu dem Thema. Mal geht es um den Kleiderschrank, ein andermal um die Wohnung. Auch Beziehungen, die Ernährung und überhaupt alles kann minimalisiert werden. Ist es ein Symptom unseres Wohlstands, dass wir jetzt anfangen, wieder weniger haben zu wollen? Mag sein. In meinen Augen auf jeden Fall endlich mal ein schöner Trend.
Minimalismus – Eine minimalistische Einführung
Minimalismus ist sicherlich (noch) kein Massenphänomen. Ich bin kein Minimalismus-Experte und sicherlich noch nicht da, wo ich hin will. Aber ich versuche mich mal an einer Kurzbeschreibung, die in einen Tweet passen würde:
Trenne dich von unnötigen Dingen, die dich belasten und die du eigentlich nicht brauchst. Es ist erstaunlich, mit wie wenig du klarkommst.
Viel wird darüber gesprochen, sich von Kleidern und Gerümpel zu trennen. Das ist gut. Doch wie gut ist es, wenn ein Minimalist den ganzen Tag am Smartphone hängt und bei Instagram und Facebook und YouTube und in seinem Blog und bei Twitter und Snapchat und WhatsApp darüber berichtet, wie es mit seinem Minimalismus vorangeht? Es bringt nichts, die Wohnung auszumisten und kaum noch Klamotten zu kaufen, wenn man den Geist von Morgens bis Abends zu müllt.
Minimalismus beginnt im Kopf.
Ziel vom digitalem Minimalismus, den ich hier vorstelle, ist die Lebensmaximierung. Das heißt: Durch die Minimalisierung deines Online-Lebens soll dein Offline-Leben so reichhaltig wie möglich gestaltet werden. Es geht nicht darum, sich vom digitalen Raum zu trennen; ich bin nicht der Meinung, dass Social Media per se schlecht ist. Es geht hier um einen bewussten Umgang mit der Digitaliserung. Die zentrale Frage dabei ist: Brauche ich das und wenn ja, wofür?
Digitaler Minimalismus: 7 Schritte für ein Hallelujah
Schritt 1: Schalte die Notifications aus (ja, alle)
Notifications nerven. Diese Benachrichtigungen, um deren Erlaubnis uns jede App anbettelt, tun im Endeffekt nur eines: uns ablenken. Einer Kaspersky Studie an den Universitäten Würzburg und Nottingham Trent zufolge, sind wir ohne Smartphones auf unseren Schreibtischen 26 % produktiver. Warum? Weil uns der Gedanke ablenkt, dass jeden Moment eine Notification über eine neue Nachricht bei WhatsApp, ein neues Like bei Instagram oder dass wir bei Quizduell an der Reihe sind, aufploppen könnte.
Schritt 2: Apps ausmisten
Gestern habe ich ein Video geschaut, in dem ein Minimalist erklärt, wie sein iPhone strukturiert ist und welche Einstellungen er wählt. Alles schön und gut, dachte ich, bis er auf der letzten Seite den Ordner »Don‘t touch« zeigte. Darin die Apps von Instagram und Google Chrome. Immerhin gibt er im Video zu, dass er öfter denn nicht doch eine der Apps öffnet und zu viel Zeit dabei vergeudet. Ganz ehrlich: Das ist dumm. Warum einen Ordner »Don‘t touch« nennen und darin Apps »verstecken«? Wir wissen doch alle wie anziehend verbotene Dinge sind – vor allem wenn sie nur ein Klick entfernt sind.
Besser ist es die Apps zu löschen, die du nicht nutzt oder nicht mehr nutzen willst. Auch hier ist die zentrale Frage: Brauche ich die App und wenn ja, wofür?
Schritt 3: Mail-en-masse
Ich schreibe Mails nur noch zu festgelegten Zeiten. Ähnliches gilt für WhatsApp-Nachrichten. (Naja meistens, denn ich bin weit weg von jeglicher Perfektion.) Früher, also vor 15 Jahren, habe ich um jeden Preis versucht, das Mitzuteilende in eine SMS zu packen. Wie viele SMS ich als pubertierende Nervensäge pro Tag geschrieben habe, weiß ich nicht. Vielleicht fünf. Damals hat es noch Spaß gemacht, es war was Besonderes. Heute baut sich eine subtile Anspannung auf: der Drang antworten zu müssen.
Das tut man doch so als guter Freund, Liebhaber und Mitarbeiter. Richtig oder? Falsch. Warum sollte man ein besserer Freund, Liebhaber oder Mitarbeiter sein, nur weil man sofort auf jede Nachricht antwortet? Ein guter Freund definiert sich nicht nach der Schnelligkeit seiner Reaktion, sondern der Qualität. Und Mitarbeiter sollen ihre Aufgaben so erledigen, sodass sie zu dem bestmöglichen Ergebnis kommen, das sie erreichen können. Gerade bei Kreativen führen E-Mail-Schlachten unweigerlich zu Unproduktivität. Nimm dir deshalb ein bis drei Zeitblöcke pro Tag, an denen du alle Nachrichten beantwortest, die du beantworten willst. Und was danach reinkommt? Verschieb es auf morgen.
Schritt 4: Social Media (zeitweise) gar nicht oder nur noch am PC/Laptop nutzen
Über Social Media habe ich schon viel geschrieben. Ich kann dir aus meiner Erfahrung der letzten viereinhalb Monate ohne soziale Netzwerke nur ans Herz legen, zumindest einen teilweisen Social Media Detox zu machen. Entweder über alle Geräte hinweg oder zumindest auf dem Smartphone. Nutzt du Instagram, Facebook und Twitter plötzlich nur noch am PC bzw. Laptop, verlieren die Dienste einen Teil ihres Reizes: dich zwischendurch zu unterhalten. Probier es aus – das Feedback, was ich bisher dazu bekam, ist durchweg positiv.
Schritt 5: Flugmodus missbrauchen
Du musst kein Vielflieger sein, um täglich den Flugmodus einzuschalten. Mein iPhone befindet sich in absteigender Reihenfolge meist in folgenden Zuständen:
- ausgeschaltet (10 bis 12 Stunden täglich)
- Nicht-Stören-Modus
- Flugmodus
- normaler Betrieb
Nehmen wir an, es gibt Apps, deren Notifications du nicht ausschalten willst. In diesem Fall hält dir der Flugmodus den Bildschirm sauber. Ähnlich funktioniert der Nicht-Stören-Modus: Er verhindert, dass der Bildschirm hell wird, sobald ein Anruf oder eine Nachricht eingeht. In den Einstellungen des iPhones kannst du gewissen Rufnummern (Mutti, beste Freundin …) erlauben, trotzdem durchzukommen. Andere Nummern werden beim ersten Anruf im Nicht-Stören-Modus an den Anrufbeantworter weitergeleitet. Zudem empfehle ich die »Bei Anheben aktivieren«-Funktion des iPhone-Bildschirms zu deaktivieren. So bleibt der Bildschirm in jedem Fall dunkel, auch wenn du ein neueres iPhone anhebst.
Schritt 6: Reden statt schreiben
Schreiben ist Bronze, Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.
Geschriebenes in allen Ehren – ich liebe es –, aber es entstehen so viele Missverständnisse durch mehrdeutig formulierte Nachrichten. Absichtlich oder unabsichtlich – meist unbeabsichtigt. Sehen wir uns dazu ein Beispiel an.
Anna: Und kommst du heute Abend? ☺
Mark: Jo
Anna: Weißt du schon wann? ☺
Mark: Ne, ich meld mich später.
Anna: Was ist denn los?
Mark: Nichts, warum?
Anna: Ich hab das Gefühl, du hast keine Lust vorbeizukommen …
Hier treten gleich mehrere Probleme auf:
- Anna nutzt Emojis, Mark nicht.
- Anna weiß nicht, dass Mark gerade im Supermarkt ist und Essen für ihren gemeinsamen Kochabend kauft.
- Mark schreibt im Supermarkt zwischendurch zurück, konzentriert sich aber eher auf den Einkauf.
- Anna interpretiert sowohl die kurzen Nachrichten als auch das Fehlen von Emojis als Problem.
Wie wäre die Situation wohl verlaufen, wenn Anna Mark kurz angerufen hätte? Sehr wahrscheinlich konfliktfrei.
Digitale Kommunikation ist fast kostenlos. Worte verlieren ihren Wert – und so werden sie auch genutzt, als wären sie wertlos. Bisher haben wir uns angesehen, warum Schreiben Bronze ist und Reden Silber. Doch Schweigen, vor allem Schweigen im digitalen Raum, ist Gold. Es ist kein Zeichen von geringer Wertschätzung, wenn ich meinen Freunden seltener schreibe. Im Gegenteil: Wenn ich ihnen schreibe, soll es Substanz haben und nicht nur etwas mitteilen, um der Mitteilung willen.
Schritt 7: Feste Offline-Zeiten
Mein bester Tipp für Körper und Geist in Bezug auf digitalen Minimalismus: Nimm dir regelmäßige Offline-Zeiten. Wie wäre es damit, die erste Stunde des Tages ohne Smartphone, Tablet und Laptop zu verbringen? Stattdessen fokussierst du deine Gedanken auf die ein bis zwei wichtigsten Ziele des Tages, liest einen kleinen Happen, isst, meditierst, duschst, gehst laufen oder machst sonst was.
Auch schön ist ein Wochenende ohne Smartphone (oder zumindest den Sonntag). Ganz gleich, wie digitaler Minimalismus für dich aussehen mag – es wird dir guttun.
Zum Hören – Der Podcast über digitalen Minimalismus
In dieser Episode von »Bewusst online sein« kannst du das Wichtigste aus diesem Artikel nochmal hören (und so ein bisschen weniger Zeit vor dem Bildschirm verbringen).
Den Podcast gibt‘s übrigens bei iTunes und Spotify.
Bis bald
Jan
Anonym meint
Super Tipps! Ich versuche nach und nach mehr digitalen Minimalismus in mein Leben zu integrieren und habe jetzt z.B. alle Social Media Apps von meinem Handy gelöscht. Danke nochmal für den Anstoß dazu 🙂
Jan Rein meint
Schön, dass ich dich dazu bewegen konnte, es zu versuchen. Du kannst gerne auch berichten, wie es dir damit geht.
Liebe Grüße
Jan
Peter Eich meint
So, jetzt lese ich mich gerade in deinen Artikeln fest 😉
Jan Rein meint
Freut mich, Peter. Viel Spaß im Lesefluss 🙂
Daniel meint
Unter dem Stichwort „Digitaler Minimalismus“, würde ich auch meinen täglichen, minimalistischen Nachrichten-Newsletter „the unhyped daily“ sehen. Wer gerne täglich entspannt auf dem Laufenden bleiben möchte, kann sich das gerne mal anschauen.