Wir leben in einer aufregenden Zeit. Nicht zuletzt, weil wir wortwörtlich eine aufgeregte Gesellschaft sind. Angepeitscht vom Optimierungs- und Maximierungsgedanken stehen wir ständig unter Strom. Dazu kommen große gesellschaftliche Veränderungen – Digitalisierung, Verfall von Normen, Globalisierung. Täte es da nicht gut eine Philosophie zur Seite zu wissen, die genau in solchen und für solche Zeiten entstanden ist? Damit wir endlich mal wieder entstressen, entschleunigen und glücklich leben können?
Solch eine Philosophie fand ich bei den Stoa. Die stoische Philosophie ist eine praktische Philosophie. Sie hat nichts mit dem zu tun, was die meisten Menschen unter Philosophie verstehen. Sie ist kein unverständliches Geschwafel von irgendwelchen abstrakten Dingen. Stoische Philosophie ist direkt und praxisbezogen. Und sie lässt sich hervorragend auf unser digitales Zeitalter übertragen.
Warum? Nun, auch sie entstand in Zeiten des Umbruchs. Begründet wurde sie von Zenon aus Kition um 300 v. Chr. in Athen. Damals erlebte Athen große Unordnung, das Leben war von Unsicherheit geprägt (so ein bisschen wie heute – nicht zuletzt wegen der fortschreitenden Digitalisierung der Welt). Sie galt schon damals als Philosophie für das Volk. Das sieht man auch, wenn man drei ihrer berühmtesten Vertreter betrachtet:
- Epiktet war Sklave, wurde entlassen und lehrte dann stoische Philosophie
- Marc Aurel war Kaiser des römischen Reiches und Stoiker – daher sein Spitzname: Kaiserphilosoph
- Seneca war Aristokrat und gebürtiger Spanier, der mit Marc Aurel zu den berühmtesten Stoikern gehört
Bei Interesse kann ich mal darüber schreiben, wie die stoische Philosophie meine Denk- und Lebensweise verändert hat. Aber hier geht es nicht um mich, sondern um dich. Los geht’s. Und bedenke: Die folgenden Zitate wurden vor rund 2000 Jahren verfasst.
15 Zitate der stoischen Philosophie, die dein Leben verändern können
Frage dich also bei jeglicher Sache: Gehört diese etwa zu den unnötigen Dingen? Man muss aber nicht nur die unnützen Handlungen, sondern auch die unnützen Gedanken vermeiden; denn die letzteren sind auch die Ursache der überflüssigen Handlungen.
Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, Viertes Buch, 24)
Wie viele unnötige Dinge gibt es in deinem Leben, über die du dir den Kopf zerbrichst? Als mein Vater im Herbst 2017 starb, erkannte ich, wie viel Zeit ich damit verschwende, über Irrelevantes nachzudenken. Damals war es auch, dass ich den Entschluss fasste, ein Jahr ohne Social Media zu leben. Um die unnützen Gedanken, die mit ihrer Nutzung einhergingen (Wie bekomme ich die meisten Likes? Ist das Essen schön genug angerichtet? Zu welcher Uhrzeit soll ich bei Instagram posten?), aus meinem Leben zu verbannen.
Ihr fürchtet alles, als wäret ihr nur sterblich; ihr begehrt alles, als wäret ihr auch unsterblich. (Seneca, Von der Kürze des Lebens, S. 13)
Für mich persönlich eines der schönsten Zitate von Seneca. Er bringt darin unsere irrationale Vorstellung über unsere Lebenszeit auf den Punkt. Diese Thematik findet sich immer wieder in stoischen Texten, woraus auch der berühmte Leitsatz »Memento mori« entstand: »Denke daran, dass du sterben wirst.«
Es überstürzt ein jeder sein Leben, leidet an Sehnsucht nach der Zukunft und an Überdruß an der Gegenwart. (Seneca, Von der Kürze des Lebens, S. 28)
In unserer – verzeih mir den abgedroschenen Begriff – schnelllebigen Zeit, überstürzen wir fast alle unser Leben. Und die Digitalisierung trägt maßgeblich dazu bei. Wie oft ertappe ich mich beim Gedanken an die Zukunft, ohne den Moment zu spüren? Doch eines habe ich beobachtet: Digitaler Minimalismus, insbesondere die Abstinenz von Social Media, richtet meinen Blick wieder mehr auf die Gegenwart.
Ich wundere mich oft, wenn ich sehe, daß man andere bittet, uns ihre Zeit zu widmen, und daß die darum Ersuchten sich so überaus gefällig erweisen. Beide lassen sich bestimmen durch die Rücksicht auf das, was die Bitte um Zeit veranlaßte, keiner von beiden durch die Rücksicht auf die Zeit selbst: man bittet um sie, als wäre sie nichts; man gewährt sie, als wäre sie nichts. (Seneca, Von der Kürze des Lebens, S. 30)
Wir gehen mit der Zeit um, als wäre sie eine unendliche Ressource. Die Zeit an sich ist es vielleicht, unsere Zeit jedoch nicht. Moderne Technologien erwecken den Eindruck, die Zeitgrenzen wären überwunden. Aber wird dürfen nicht zulassen, dass wir mit der Zeit umgehen, als wäre sie nichts.
Das eine steht in unserer Macht, das andere nicht. In unserer Macht stehen: Annehmen und Auffassen, Handelnwollen, Begehren und Ablehnen – alles, was wir selbst in Gang setzen und zu verantworten haben. Nicht in unserer Macht stehen: unser Körper, unser Besitz, unser gesellschaftliches Ansehen, unsere Stellung – kurz: alles, was wir selbst nicht in Gang setzen und zu verantworten haben. (Epiktet, Handbüchlein, nach Die Weisheit der Stoiker, Pos. 413)
Warum beschäftigen wir uns so sehr mit dem, was nicht in unserer Macht steht? Ich bin keine Ausnahme. Statt nach Anerkennung, Likes und Liebe zu betteln, sollten wir unseren Fokus darauf richten, das zu lenken, was wir lenken können: Unsere Kompass so ausrichten und danach handeln, dass Ansehen, Geld und andere Externalitäten danach kommen (wenn sie denn kommen).
Woher kann ich denn wissen, was [= welche Zahl beim Würfeln] fallen wird? Aber von dem, was fällt, einen bedächtigen und spielgemäßen Gebrauch zu machen, dies ist nun schon mein Geschäft. (Epiktet, nach Die Weisheit der Stoiker, Pos. 850)
Du, ich – wir wissen nicht, was das Morgen bringt. Welche Technologien gefährden welche Berufszweige? Wer wird morgen, wer übermorgen durch Algorithmen und Roboter ersetzt? Was wir allerdings tun können, ist die Karten, die wir in der Hand halten, so gut wie möglich zu spielen.
Die Lebenskunst hat mit der Fechtkunst mehr Ähnlichkeit als mit der Tanzkunst, insofern man auch auf unvorhergesehene Streiche gerüstet sein und unerschütterlich fest stehen muß. (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 7,61)
Siehe das vorige Zitat.
Es kommt nicht darauf an, über die notwendigen Eigenschaften eines guten Mannes dich zu besprechen – vielmehr ein solcher zu sein. (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 10,16)
Tu Gutes und erzähl niemandem davon. In der digitalen Welt hingegen will jede noch so kleine gute Tat gefeiert werden. Die Reaktionen unterliegen meist dem Kalkül: Ich applaudiere dir und hoffe, dass du mir applaudierst. Doch wir sollten Gutes nicht um des Applauses willen tun.
Arbeite an deinem Inneren. Da ist die Quelle des Guten, eine unversiegbare Quelle, wenn du nur immer nachgräbst. (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 7,59)
Wir dürfen den Blick nicht zu oft nach außen richten. Introspektion statt Möglichkeits-Voyeurismus.
Warum dich durch die Außendinge zerstreuen? Nimm dir Zeit, etwas Gutes zu lernen, und höre auf, dich wie im Wirbelwind umhertreiben zu lassen. Hüte dich noch vor einer anderen Verirrung, denn es ist auch Torheit, sich das Leben durch zwecklose Handlungen schwer zu machen; man muß ein Ziel haben, auf das sich alle unsere Wünsche, alle unsere Gedanken richten. (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 2,7)
Bei diesen Zeilen denke ich sofort an FOMO. Mark Aurel schreibt hier sicherlich ebenfalls über das Phänomen der Angst, etwas zu verpassen. Ein weiteres Beispiel dafür, wie zeitlos stoische Philosophie doch ist – und wie hilfreich sie heute, 2000 Jahre nach ihrer Niederschrift, gelesen werden kann (mit diesen Tipps kannst du FOMO loswerden).
So sprich zum Beispiel bei einer Mahlzeit nicht davon, wie man essen solle, sondern iss so, wie es sich gehört. (Epiktet, Handbüchlein, 46)
Ein stoisches Beispiel für: Taten sind wichtiger als Worte.
Was heißt ›sterben‹? Gib doch dem Vorgang keinen so tragischen Namen, sondern sag einfach, wie es sich tatsächlich verhält: Es ist nun Zeit, dass der Stoff wieder in die Teile zerfällt, aus denen er zusammengesetzt wurde. Und was ist furchtbar daran? Was kann denn Neues, Vernunftwidriges entstehen? (Epiktet, nach Die Weisheit der Stoiker, 2039)
Worte, die den Schmerz nach dem Verlust meines Vaters im Herbst des letzten Jahres gemildert haben.
Das Leben ist lang, wenn man es recht zu brauchen weiß. Aber den einen hält unersättliche Habsucht in ihren Banden gefangen, den anderen eine mühevolle Geschäftigkeit, die an nutzlose Aufgaben verschwendet wird. (Seneca, Von der Kürze des Lebens, S. 7)
Zeitmangel ist heute ein Statussymbol. Schade, denn diese mühevolle Geschäftigkeit macht uns krank, müde und lassen uns irgendwann voller Reue auf unsere »besten Jahre« zurückblicken.
Nichts bringt uns mehr vom Weg zum Glück ab, als dass wir uns nach dem Gerede der Leute richten, statt nach unseren Überzeugungen. (Seneca)
Social Media ist ein Paradebeispiel für einen »Ort«, an dem wir uns nach dem Gerede der Leute richten. Du weißt sicherlich, was ich meine. Und ich bin keine Ausnahme.
Nicht die Dinge selbst, sondern die Vorstellungen von den Dingen beunruhigen die Menschen. (Epiktet, Handbüchlein, 5)
Stoische Philosophie: Zum Weiterlesen und Nachschlagen
Die Zitate habe ich aus folgenden Büchern (Seitenzahlen und dergleichen findest du bei den Zitaten):
Seneca: Von der Kürze des Lebens*
Marc Aurel: Selbstbetrachtungen*
Epiktet: Das Buch vom geglückten Leben*
Massimo Pigliucci: Die Weisheit der Stoiker: Ein philosophischer Leitfaden für stürmische Zeiten*
Schönes Video mit Harald Lesch über die Stoiker: https://www.youtube.com/watch?v=OHgiFyxxZrE oder in der BR Mediathek: https://www.br.de/mediathek/video/denker-des-abendlandes-stoa-av:584f88da3b467900119ec5fd
Wenn du mehr über das Leben im digitalen Zeitalter lesen möchtest, dann empfehle ich dir mein kostenloses E-Book »Ausgeloggt und losgelebt« mit 50 Erinnerungen an das echte Leben. Ich schicke es dir zu, wenn du dich unter diesem Artikel dafür anmeldest. Viel Spaß mit dem Büchlein!
Bis bald
Jan
Jess meint
Wunderschöne Zitate! Danke fürs Teilen und dafür, dass du den Bezug zur heutigen Zeit hergestellt hast.
Jan Rein meint
Danke für die Blumen 🙂
Petra meint
Genau das hab ich jetzt gebraucht!!! Danke 🙂
Jan Rein meint
Das freut mich, Petra!
Sophie meint
Wusst ich’s doch, dass du stoische Philosophie magst 😉 Ich mag von ihnen alle am liebsten Epiktet, den ehemaligen Sklaven.
Liebe Grüße aus München
Sophie
Jan Rein meint
War es so offensichtlich? 😉
Simon meint
Super Beitrag, vielen Dank!
Tanja meint
Sehr gute Zitate…toll geschrieben
Güntürk meint
Toller Beitrag! Ich möchte mein bisher sehr kleines Wissen über Stoische Philosophie ausbauen und erweitern. Für private und berufliche Zwecke.
Freue mich auf das
kostenlose E-Book „Ausgeloggt und losgelebt„.
Besten Dank & freundliche Grüße.
Petra meint
Für Menschen, die sich erstmals für dieses Thema interessieren, mag der Beitrag recht interessant sein. Ansonsten findet sich thematisch Vieles wieder, was anderswo auch schon zu entdecken ist.
Der nachlesende Aufruf, nach einem Artikel über Pallaver-Abstinenz zu einem Kommentar zu animieren ( und diesen möglichst im Apple-Dunstkreis) wirkt aufdringlich und paradox.
Günter meint
Was – um alles in der Welt – ist nicht auch schon anderswo zu entdecken? Und wieso bist du nicht anderswo geblieben, statt dich hier aufzuplustern?
Bastian meint
Ich würde mich ebenfalls über das Ebook freuen!
Danke!
Hans Sühs meint
Nachtrag zu Schong:
Beschäftigung, die nie ermattet,
die langsam schafft, doch nie zerstört,
die zu dem Bau der Ewigkeiten
zwar Sandkorn nur für Sandkorn reicht,
doch von der grosssen Schuld der Zeiten
Minuten, Tage, Jahre streicht.
Manu meint
Klar hat man das vielleicht schon mehrmals gelesen. Der Mensch muss es aber immer wieder lesen, hören um es wirklich aufzunehmen und dann danach zu leben. Meine Meinung. Ich würde gerne noch mehr lesen
Snaker Joe meint
Kann es sein, dass es viele Gemeinsamkeiten und Beruehrungspunkte zwischen der stoischen Philosophie und dem Buddhismus gibt?
Antoine Schuermann meint
Hörte den Begriff im TV-Interview mit Boris Becker nach dessen Gefängnisauffenthalt und habe es gegoogelt. So bin ich hier gelandet und habe festgestellt, dass ich in vielen Dingen genau so oft handel und agiere. Allerdings ärgere ich mich jedesmal, wenn ich in einem Streitgespräch die Beherrschung verliere und laut werde. Ich werde mich diesem Thema annehmen und hoffe noch einiges dazu zu lernen. Alle meine Entscheidungen meines Lebens habe ich nie wegen Geld getroffen.Leute mit teuren Uhren am Armgelenk, sage ich sehr gerne: „Du hast die Uhr und ich die Zeit.“ Fühle mich in vielen Dingen bestätigt.
Stefan Schäfer meint
Auch mir ist bei dem Interview mit Boris Becker aufgegangen, dass ich mich intensiver mit dem Stoizismus befassen sollte.
Für mich selbst habe ich einige Verhaltensweisen entwickelt, die ich in der stoischen Lehre wiederfinde. Dinge wie: „Es kommt wie es kommt“ oder „einfach mal fünfe gerade sein lassen“ können wirklich sehr hilfreich sein, wenn man sich früher mit Zukunftsängsten zerfressen hat oder Magenschmerzen wegen Belanglosigkeiten bekommen hat.
Wie sehr die Aussagen der Stoa auch nach 2000 Jahren noch passen und im Alltag funktionieren ist einfach erstaunlich.
Deha meint
stoische Philosophie ist wie eine Weltreligion für alle Menschen, die durch
harte Zeiten mit erhobener Brust schreiten und die Wahrheit ihres eigenen
Lebens entdecken wollen. Eine so klare und auf den Punkt gebrachte Welt-
anschauung mit Ethik ist nicht leicht zu finden. Cooler Beitrag Jan !
Martina meint
Sehr interessant!
Ich hätte sehr gerne das E- Book.
Dominik Struck meint
Das Thema hört sich richtig gut an
Lars meint
Hallo
Können sie mir bitte ihr kostenloses ebook „Ausgeloggt“ per email zustellen.
Vielen Dank
Anne van den Oever meint
Hallo Jan, danke dass du die Zitate mit mir und der Welt teilst. Schön zu sehen, dass ich nicht alleine bin, die sich mit den Stoismus beschäftigt.
Einen schönen Sonntag wünsche ich dir, liebe Grüße aus Bayern von Anne.
Uwe Engelman meint
Hallo jan
schöne Zitate…. bist du noch am philosophieren?
Grüße aus Freiburg***
Antje Rode meint
Hallo Jan,
Du hast mich neugierig gemacht. Sehr interessante Zitate und „Gedöns“ drumrum, wie meine Großmutter gesagt hätte 😉
Sehr gerne hätte ich die von Dir angebotene Datei. (Ich habe allerdings kein E-Book – läuft es auch als Tonspur auf dem iPhone?)
Danke und viele Grüße!
Antje
Irene Bogner meint
lieber Jan,
wer bist du, wo bist du… all diese virtuellen Kontakte bestürzen mich. ich meine, ich komme aus der Zeit vor Internet (63).
vieles ist beängstigend. machst du Workshops? gibt es Reale Austauscmöglichkeiten…. ich gehe gerade im Internet verloren…. Lost in virtuell Space. lG die Upanishaden waren der Übergang vom gesprochenen zum geschriebenen Wort… ein Quantensprung. ich denke oft darüber nach, wie schwer es für die Menschen wohl war, den direkten Kontakt zu verlieren und ein Buch in die Hand gedrückt zu bekommen…. sehr viel ging verloren. jetzt vom Buch zum virtuellen Netz. wieder ein gewaltiger Quantensprung. der klang der Sprache, Mimik, Gestik, Körpersprache… was bleibt, sind ein paar Bausteine. die „berühmten“ 3cm vom Eisberg. menschen, wo bleiben wir?
Jan Rein meint
Danke für deinen Kommentar. Auf Anfrage gebe ich manchmal Workshops, wenn es die Zeit erlaubt 🙂
Realer Austausch ist so wichtig!