Eine befruchtete Eizelle braucht neun Monate, um erst ein Embryo zu werden, schließlich als Fetus der Mutter gegen die Bauchinnenseite zu boxen, und dann als schreiende Miniversion eines Menschen den Kreissaal zu beschallen. Und ich? Ich brauchte 9 Monate, um vom Social-Media-Süchtigen zu einer weniger durchdigitalisierten Version meiner Selbst zu werden.
Zu Beginn meiner Social Media Diät war ich motiviert, jeden Monat ein Update zu veröffentlichen. Dann wollte ich über einen Podcast auf das Thema aufmerksam machen. Und dann kam es doch anders.
Das letzte Update liegt eine Weile zurück, es war zum Halbjährigen. Jetzt sind 9 Monate rum, eine Schwangerschaft sozusagen, eine Schwangerschaft mit mir selbst.
Was soll ich sagen? In den letzten Monaten hatte ich viel zu tun (meine Lieblingsausrede). Danach eine Produktivitäts-Ebbe, eine Flaute auf dem Konto und im Kopf. Ich hatte auch keine Lust mehr über Social Media zu schreiben; das Thema scheint so fern, passt nicht mehr zu mir, als wäre ich Fetus, und das zurückgelassene Social-Media-affine Ich der Embryo.
Schwanger mit mir selbst
Nach 9 Monaten Social-Media-Pause wieder was zu schreiben, scheint mir der richtige Zeitpunkt. Diese 39/40 Wochen sind eine magische Grenze, wahrscheinlich weil eine menschliche Schwangerschaft so lange dauert.
Aus einer befruchteten Eizelle wird in 9 Monaten zunächst ein bohnenähnlicher Embryo, dann ein Fetus, schließlich die Miniversion eines Menschen. In dieser Zeit entsteht alles, was einen Menschen ausmacht und im Idealfall bis zum Tod dieses winzigen Wesens begleiten wird.
So ein bisschen ging es auch mir. Ich brauchte 9 Monate Abstand von Facebook, Instagram, Twitter und so, um diese Metamorphose zu durchleben. Heute habe ich mit meinem Social Media nutzenden Ich so viel gemein, wie ein schreiendes Baby mit der befruchteten Eizelle.
Diese Schwangerschaft entstand nicht aus Liebe, nicht in einem Akt der wechselseitigen Befruchtung. Es begann mit einer Trennung.
Social Media: Glückliche Trennung
Ich war zwar lange nicht mehr da, aber bleibe auf dem Laufenden. Wie nach einer Trennung bin ich nicht mehr Teil des Geschehens, aber noch interessiert daran. Ich stehe hinter’m Zaun, irgendwo draußen, und beobachte aus der Ferne. Und was ich sehe, freut mich.
Die Plakate in London und an deutschen Bushaltestellen. Die Erklärungsversuche. Angedrohte Milliardenstrafen. Das Abwandern ehemaliger Mitstreiter, das Sterben einverleibten Intellekts.
Das F in Facebook stehe für Fehler, heißt es auf einem Plakat. Man müsse etwas ändern. Doch Fehler nur aufgrund schwankender Börsenkurse und öffentlichen Unmuts einzugestehen, zeugt nicht von Authentizität. Aber das passt ja zur Inszenierung auf den eigenen Plattformen.
Zeitgleich verlassen die Gründer von WhatsApp und Instagram das Unternehmen, teilweise auf mehrere Hundertmillionen Dollar verzichtend. Mitarbeiter von weniger öffentlichem Interesse bekunden ihren Unmut über Geschäftspraktiken von Facebook. Und was macht Zuckerberg? Wahrscheinlich weiterhin am Wasser nuckeln und versuchen wie ein mitfühlender Mensch zu wirken.
Derweil bin ich glücklich mit meiner Entscheidung, mit der Trennung. Zu viel war vorgefallen, zu viele Fehler wurden gemacht. Zu viel Zeit verschwendet. Zu viel Maskerade, zu wenig Echtheit. Zu viel Verrat und Ausverkauf. Eine letzte Chance, die verdient jeder. Ab einem bestimmten Punkt jedoch, hilft nur noch die sofortige Trennung.
Was noch übrig bleibt
Die letzten 9 Monate waren manchmal busy, dann fast zu ruhig, immer mal wieder sehr schön, genauso oft aber auch schwierig. Das nennt man wohl Leben. Und ich bin froh, mich nicht mehr mit dem Dauergrinse- und Always-happy-Lifestyle auf Instagram zu vergleichen.
Das Ende einer neunmonatigen Schwangerschaft ist immer der Beginn von etwas Neuem. Eine Trennung ebenfalls.
Was übrig bleibt ist ein neues Ich, das da in den vergangenen 9 Monaten herangewachsen ist. Bestimmt nicht perfekt und erst recht nicht mit Anspruch darauf, dafür aber freier. Freier in Unperfektheit und Selbstbestimmung.
Julia meint
Hey Jan,
Ich bin auf deine Einträge gestoßen und bin wirklich von dir fasziniert. Ich habe in den letzten Jahren mehrmals versucht Instagram etc. aus meinem Leben zu verbannen aber ich bin immer wieder zurückgekehrt. Da ich selber noch junge 18 bin, werde ich ungefähr seid ich 15/16 bin damit konfrontiert was eine entscheidende Entwicklungsphase im Leben des Menschen zeigt. Und noch jüngere werden schon mit 11/12 in die Instagram/ Fakewelt gezogen. Durch deine Einträge habe ich neue Motivation es endlich mal durchzuziehen da ich wirklich keine Lust darauf habe.
Liebe Grüße
Jan Rein meint
Hi Julia,
dein Kommentar freut mich sehr! Ich finde es stark, dass du die schon länger Gedanken darüber machst, der Fake-Welt mehr und mehr zu entfliehen.
Mein Rat: Spring einfach mal ins kalte Wasser – und, wenn es nur für eine Woche ist. Lösche die Insta-App und andere, die dir nicht guttun, nur um zu sehen, dass das Leben weitergeht und die Menschen, die WIRKLICH wichtig sind, dich niemals vergessen.
Liebe Grüße
Jan