Ein Monat Social Media Entzug ist vorüber. Ich hänge zwar nicht mehr am Like-Tropf, werde dafür aber langsam wieder nüchtern. Noch ein wenig unbeholfen im Umgang mit so viel Zeit, schaue wie ein Nichtraucher auf meine Mitmenschen, die das Glockenläuten ihres Smartphones auf dem verlangten Glücksniveau hält. Aber es wird.
Social Media Entzug: 3 Erkenntnisse aus dem ersten Monat
Im vorigen Artikel der Reihe habe ich die ersten drei Tage ohne Social Media beschrieben; jetzt wird der erste Monat resümiert. Ich habe mir in den vergangen Wochen unzählige Notizen zu meiner Social Media Diät gemacht und fasse hier meine Beobachtungen zusammen. Nicht alles, aber das Wichtigste.
Einige Formulierungen klingen hart, vielleicht zu hart, und sind sicherlich zu verallgemeinernd, aber so fühle ich mich gerade. Und schließlich ist das hier ein Entzug. Aber ich weiß auch: Jeder geht anders mit sozialen Netzwerken um; jeder hat einen anderen digitalen Freundeskreis; jeder sieht in Social Media etwas anderes.
1. Wie ein Nichtraucher
Als ich vor einigen Jahren das Rauchen aufhörte, ging ich durch verschiedene Entzugsphasen. Erst war da die Verzweiflung, dem körperlichen Entzug so hilflos ausgeliefert zu sein. Nach wenigen Tagen kam ein Schutzreflex hinzu, der dem Entzug eine Leichtigkeit beimischte. Dieser Schutzreflex besteht in erster Linie aus starker Ablehnung. Das ist der Grund, warum ehemalige Raucher eine zeitlang so allergisch auf Raucher reagieren. (Den Effekt kennt man auch von Ex-Alkoholikern und anderen Drogen-Abtrünnigen.)
Nun fühle ich mich wieder so, wie in den ersten Monaten als Nichtraucher. Verachtend schaue ich auf die Süchtigen herab, die immer noch am Like-Tropf hängen und sich am Glockenläuten ihrer iPhones erfreuen, wenn es wieder Notifications gibt. Ich fühle mich ein Nichtraucher in der Raucherkneipe.
In diesem ersten Monat sehe ich fast nur die negativen Seiten von Social Media: Ablenkung, Lärm, Leere.
Das wird sich ändern. Nach einer Beziehung, dem Auflösen einer Clique oder einer Kündigung ist eine der ersten Reaktionen Ablehnung, wie beim Entzug. Wir schützen uns vor dem, was wir nicht mehr haben können.
Zwischen all der Ablehnung schiele ich trotzdem hin und wieder mit einem Auge auf meine ehemalige Lieblingsbeschäftigung, um Leere zu füllen: Social Media. Für einen kurzen Moment erkenne ich ihren Wert und beneide die, die neben mir im Café sitzen und über irgendwas in ihrem Facebook Feed lachen. Etwas, das ich nicht sehen werde. Und dann tröste ich mich, indem ich über sie lache.
2. (Die meisten) Social Media Bekanntschaften sind wie Saufkumpanen
Social-Media-Bekanntschaften sind wie Saufkumpanen: Sie sind dafür da, um eine gute Zeit zu haben; zu mehr taugen sie nicht; für mehr sind sie nicht da.
Es war naiv anzunehmen, dass da mehr wäre als eine oberflächliche Beziehung. Die meisten von meinen insgesamt rund 30.000 Freunden und Follower habe ich, seit ich offline bin, nicht mehr gesprochen. Wie auch? Nur die wenigsten hatten meine private Nummer, obwohl wir teilweise täglich kommunizierten.
Die Menschen, die jetzt noch da sind, sind die, die entweder schon vor Social Media da waren oder die, die ich im echten Leben kennengelernt habe. Und der Rest?
3. Über Beziehungs-Fast-Food und das Vergessen (Fortsetzung von 2.)
Wer mich bei Instagram vor einem Monat noch interessiert, inspiriert, zum Lachen gebracht, den Kopf schütteln gelassen und genervt hat? Vergessen. Wer waren sie und warum waren sie in meinem Leben (Feed)? Ihr Verlust schmerzt nicht. Er befreit. Er befreit, weil so Raum frei wird, um die Menschen, die geblieben sind, intensiver kennenzulernen.
Wie (billiges) Fast Food hat ihre Bekanntschaft für den Moment ein gutes Gefühl hinterlassen. Kurze Zeit später jedoch, war da nichts als Leere. Beziehungs-Fast-Food – Klick und weg.
Wie beim Fast Food zählt nur die Illusion von Essen; wo die einzelnen Zutaten herkommen, wie sie verarbeitet werden, sieht man nicht, schmeckt man nicht, ist letztendlich auch egal. Man sieht nur die Oberfläche. Ab und zu blitzt etwas Echtes durch, was bei näherer Betrachtung so echt ist wie die Hausfassaden in einem Western.
Nicht alle sind so. Ich habe viele liebe Menschen in sozialen Netzwerken kennengelernt, die ich über die Maßen schätze. Aber schau dir deinen Newsfeed mal an, dann weißt du wen und was ich meine.
Sie sind wie leere Kalorien. Nichts, was hängen bleibt. Nichts, was lange befriedigt. Essen, das ohne all das auskommt, was echtes, frisches, selbst zubereitetes Essen ausmacht: einkaufen, Zutaten auswählen (sorgfältig auswählen!), riechen, fühlen, schmecken, lagern, waschen, schälen, schneiden, zubereiten. Am Ende schmeckt man jeden einzelnen dieser Schritte, jede Schicht des Endprodukts ist echt. Keine einzige leere Kalorie.
Und so bin ich nicht traurig, zu vergessen wie Beziehungs-Fast-Food schmeckt. Es macht sowieso nicht lange satt, macht fett, macht träge, macht gleichgültig. Die Geschmacksknospen verkümmern, alles schmeckt gleich, sieht gleich aus, gibt vor etwas zu ein, das es nie sein wird.
Was tun mit der freigewordenen Zeit?
In einer Zeit, in der keine Zeit zu haben Statussymbol ist, stellte ich mir vor dem Social Media Entzug die Frage: Was werde ich mit der freigewordenen Zeit machen? Was sagt mein Ego dazu? Werde ich mich unproduktiv, ungeliebt und unnütz fühlen?
Im ersten Artikel der Serie habe ich aufgeführt, wie oft ich soziale Netzwerke zuletzt nutzte: 53 Mal öffnete ich im Schnitt pro Tag eine entsprechende App oder Seite. Rund zwei Stunden gingen jeden Tag primär für Instagram und Facebook drauf. Einiges dieser Zeit brauchte ich um Fotos zu machen, Texte, Kommentare und Nachrichten zu schreiben. Wenn ich ehrlich bin scrollte ich aber mindestens genauso lange einfach nur vor mich hin.
Was nun?
Wenn täglich 2 Stunden frei werden, summiert sich das im Jahresverlauf auf satte 730 Stunden. Das sind beispielsweise 90 Bücher (± 8 Stunden pro Buch), die ich zusätzlich lesen könnte. Oder einfach ein Monat mehr Lebenszeit im Jahr. Das Jahr bekommt einen 13. Monat. Was würdest du mit so viel zusätzlicher Zeit anstellen?
Was ich im ersten Monat schon feststelle:
Zeit zu haben heißt auch, dass die Lieblingsausrede ungültig ist.
Denn keine Zeit zu haben ist nicht nur Statussymbol unserer Zeit, sondern auch die Ausrede schlechthin. Und – Achtung, der Kreis schließt sich! – Social Media war mein Lieblingszeitvertreib. Immer wenn ich gerade nichts zu tun hatte, machte ich’s meinem Hirn gemütlich und öffnete Instagram.
Als Neu-Zeit-Reicher stehe ich also vor 3 neuen Problemen (wir begeben uns ja so gerne von einem Problem zum nächsten):
- Was wird meine neue Lieblingsausrede?
- Womit werde ich das verlorene Statussymbol kompensieren?
- Was zur Hölle mache ich mit zwei zusätzlichen Stunden pro Tag?
Diese Fragen werde ich versuchen im nächsten Artikel zu meinem Social Media Entzug zu beantworten. Vielleicht hast du ja Tipps, Erfahrungen oder Kritik parat?
Bis bald
Jan
Denise meint
Ich hab mich echt auf das Update gefreut und finde, du hast deine Gefühle und Erfahrungen sehr schön auf den Punkt gebracht. Danke für die Einblicke! 🙂
Jan Rein meint
Danke dir für deinen Kommentar! Schön, dass du Freude an der Reihe hast 🙂
Emma meint
Lieber Jan, ich finde dich inspirierend und blicke zu dir auf. Ich glaube nicht, dass man versuchen sollte, die Zeit zu füllen, die einem mehr dazu kommt. Sie sollte offen bleiben für all die Dinge, die schon seit Tagen auf der To-Do-Liste stehen, für ein Telefonat mit einem vermissten Menschen, zum Nachdenken oder dafür, alles einfach ein bisschen langsamer zu machen. Und für alles, was unerwartet dazu kommen kann. Ein Freund, der Hilfe braucht. Eine spontane Idee, die umgesetzt werden will.
Das wäre meine Vorstellung für die freie Zeit. Leider fängt man so schnell an, Dinge zu tun, die einem nicht gut tun. Und in der Theorie hört sich immer alles viel schöner und leichter an. Ich zumindest scheitere täglich an einem ausgewogenen Verhältnis von Arbeit und Stress auf der einen und Entspannung auf der anderen Seite.
Ich freue mich sehr über die kommenden Blogs zu deinem „Entzug“.
Jan Rein meint
Schöner Beitrag! Normalerweise neige ich dazu, mich vollzuladen, mit Dingen, Eindrücken und Vorhaben zu überfrachten. Darauf habe ich beim Social Media Entzug bewusst verzichtet. Beispielsweise habe ich mir diesen Monat zum ersten Mal seit Jahren wieder öfter einen kurzen Mittagsschlaf erlaubt. Die Zeit hatte ich früher mit irgendwelchen (teils sinnlosen) To-Dos oder eben Social Media gefüllt. Zudem schlage ich jetzt öfter tagsüber ein Buch auf und lese ein paar Seiten darin (teilweise einfach mittendrin). Einfach so. Ohne Ziel und großartige Hintergedanken.
Tanith meint
Lieber Jan,
finde deinen Beitrag hier echt super und kann das (leider) alles nur bestätigen – ich mache zwar selber keinen solchen Entzug (Respekt dafür!) aber merke das in Instagram-Pausen immer wieder aufs Neue! Danke dass du deine Erfahrungen hier mit uns teilst 🙂
Ich denke mit soviel mehr Zeit würde ich mich noch kreativeren Tätigkeiten widmen wie z.B. dem Zeichnen. Das ist aber natürlich Geschmackssache.
Liebe Grüße,
Tanith
Jan Rein meint
Liebe Tanith,
schön, dass du vorbeischaust und schön, dass du den Artikel gelesen hast. Zeichnen klingt cool, kannst du das ansonsten nicht so in deinen Alltag einbauen?
Liebe Grüße
Jan
Patrick meint
Hi Jan,
vielen Dank für Deine weiteren Einblicke.
Ich fühle mich gerade unfassbar inspiriert und motiviert, es Dir gleich zu tun! 🙂
LG
Patrick
Jan Rein meint
Hey Patrick,
sehr cool, das freut mich! Ich würd mich über deine Erfahrungen freuen 🙂
Liebe Grüße
Jan
Anonym meint
Hi Jan,
ich liebe deine Art, wie du schreibst und finde deinen „Entzug“ unheimlich spannend und inspirierend. Danke!
Jan Rein meint
Merci 🙂
Michelle meint
Lieber Jan!
Ich finde deinen Blog sehr interessant! Ich persönlich bin seit ca. 6 Monaten komplett ohne Social Media und es gab keinen richtigen Entzug, es war eine bewusste Entscheidung. Finde es toll, dass du es probierst und ich bin sehr gespannt wie deine Meinung nach diesem Jahr aussieht. Ich warte gespannt auf deine Berichte .
Einen lieben Gruß aus Wien
Michelle
Jan Rein meint
Liebe Michelle,
herzlichen Dank, dass du vorbeischaust und für deinen Kommentar!
Viele Grüße nach Wien
Jan
Nele meint
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Das ist die absolute Ironie
Jan Rein meint
Warum nicht? Ich hab auch lange überlegt, ob das Sinn macht. Aber die Leute, die ich damit ansprechen will, verbringen eben enorm viel Zeit in sozialen Netzwerken.
Lidia meint
Das ist tatsächlich Ironie. Aber wie Jan schon sagt, wieso nicht? Wie soll es sonst die Menschen erreichen, die viel Zeit in Social-Media verbringen? Vor allen Dingen regt dieser Artikel dazu an, das Handy nach dem Lesen wegzulegen und eventuell über seinen eigenen Social-Media Konsum und im gleichen Atemzug seine allgemeine Zeitgestaltung nachzudenken. Was in meinen Augen einen deutlich besseren Effekt hat. Ein Schwarz-Weiß Denken bringt in Zeiten der Digitalisierung sowieso nicht weiter. Wir können uns diesem Wandel nicht entziehen, aber ein bewusster und vielleicht sogar anderer Umgang mit Social-Media/Digitalisierung wäre sicherlich nicht verkehrt.
Daniel meint
Schöner Erfahrungsbericht! Ich denke ich werde es auch ausprobieren. Letztlich hat man ausser Unruhe und Zeitverschwendung doch eigentlich nichts von den genannten Plattformen… Danke 🙂
Jan Rein meint
Hi Daniel, dann wünsche ich dir viel Erfolg dabei und eine spannende Zeit 🙂