Früher waren Pioniere Menschen, die nach vorne geschaut und, wenn es sein musste, drauflos geprescht sind. Ohne Rücksicht auf bis dato gültige Normen und Traditionen. Heute ist die Welt eine andere. Wir brauchen Pioniere, die mal einen Schritt zurückgehen und fragen: »Was zur Hölle tun wir hier eigentlich?«
Die Welt braucht nicht noch mehr Influencer, die die neusten Eyeliner und Dildos in die Kamera halten. Davon gibt es genug. (Versteh mich nicht falsch: Es gibt Influencer, die wirklich gut darin sind, mit Kosmetik und Dildos zu wedeln, aber davon gibt es genug. Du kannst bestimmt noch ein bisschen mehr!) Was die Welt braucht ist eine neue Definition von Influencer.
Influencer bedeutet wörtlich übersetzt: Beeinflusser.
Beeinflusser sagt noch nichts über Art und Richtung der Beeinflussung aus. Ist es Beeinflussung zum friedvollen Miteinander, zum Attentat oder zum gesunden Leben? Über die Qualität der Beeinflussung sagt der Begriff nichts. Bisher beeinflussen Influencer jedoch vor allem eines: Konsum. Und wir müssen uns die Frage stellen: Brauchen wir mehr Konsumgeilheit?
Influencer 1.0 versus Influencer 2.0
Ich will konsumanstachelnden Influencern keinen Vorwurf machen. Wir leben in einer konsumgeilen Welt und sie können nichts dafür, dass sie da rein geboren wurden. Influencer 1.0, Stars wie Schauspieler und Rockstars, waren schon immer Trendsetter. Wir erleben gerade die konsequente Fortsetzung dieses Trends. Und nein, früher war nicht alles besser, wir waren einfach weniger vernetzt und informiert.
Die Neuen Influencer oder Influencer 2.0, wie ich die aktuelle Generation der professionellen Beeinflusser in sozialen Netzwerken nenne, tun das, was James Dean, Pamela Anderson und Elvis Presley auch taten: Millionen junge Menschen zum Nachahmen animieren. Und Nachahmen heißt in unserer Gesellschaft: Nachkaufen. Konsumieren. So tun als ob.
So tun als ob bringt mich auf einen Punkt, den ich gerne anmerken will: Influencer 1.0 waren weiter weg als Influencer 2.0. Schauspieler spielten sich über Rollen in die Herzen ihrer Fans, Musiker über ihre Bühnenshow. Stars von früher waren in gewisser Weise keine Menschen, sondern Inszenierungen, Rollen, Images, Marken. Influencer 2.0, also Social Media Stars, verbinden Wirklichkeit und Inszenierung stärker als ihre Vorgänger (aber noch lange nicht vollkommen).
Ältere Generationen meckern gerne über jüngere. Das macht auch nicht vor älteren Semestern des Influencerseins halt. Paris Hilton, eine Influencerin der 1. Version sagt: »Ohne Social Media hatten wir mehr Spaß!« Übersetzt heißt das: »Ohne Social Media hatte ich mehr Einfluss.« Instagram-Stars sind die IT-Girls der 2010er Jahre. Sorry Paris!
Wer sind die Influencer 3.0?
Dass wir in den letzten 10 Jahren eine Wende von Influencer 1.0 (Paris Hilton) zu Influencer 2.0 (BibisBeautyPalace) erlebt haben, ist der Vorbote der nächsten Generation: Influencer 3.0. Die Verlagerung der Aufmerksamkeit von alten Medien (Fernsehen, Zeitungen und Zeitschriften, Radio und Bücher) zum digitalen Raum wirft interessante Fragen auf:
- Auf welcher Plattform bzw. welchen Plattformen wird die nächste Generation Influencer agieren?
- Gehen Influencer 2.0 in Influencer 3.0 über? Wer wird auf der Strecke bleiben?
- Werden Influencer 3.0 überhaupt noch Menschen sein?
Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir sie weiter aufdröseln und genauer betrachten.
Influencer der Zukunft: Plattformen der Beeinflussung
Führende Forscher sind sich einig, dass das Internet auch in den nächsten Jahrzehnten nicht verschwinden wird. Andererseits ist es wahrscheinlich, dass sich die Hardware massiv verändern wird, mit der wir das Internet erleben. Apropos, es wird zunehmend ein erleben des digitalen Raums stattfinden, das dem wörtlichen Sinne des Worts nahekommt (Stichwort: Virtual Reality).
Auf philosophischer Ebene lässt sich heute schon argumentieren, dass wir einen beträchtlichen Teil unseres Lebens in einer Virtuellen Realität verbringen. Geht man davon aus, dass Social Media, das Internet im Allgemeinen, Videospiele und dergleichen virtuelle Welten sind, könnte man sie zu Virtueller Realität machen.
Wenn junge Menschen schon heute drei Stunden pro Tag in sozialen Netzwerken wie Facebook und Instagram verbringen, liegt es nahe, dass sich dieser Trend fortführen wird. Wie wird das erst aussehen, wenn Virtuelle Realitäten der Realität noch näher kommen? Wenn Menschen in Virtuellen Welten sein können, wer sie sein wollen – ohne die nötige Arbeit, die heute noch dafür nötig ist?
In jedem Fall können wir uns darauf einigen, dass Influencer auch in Zukunft dort sein werden, wo die Aufmerksamkeit der Masse hinwandert. Denn wo die Aufmerksamkeit ist, liegt das Geld. Und sehr wahrscheinlich wird sich die Aufmerksamkeit der Masse künftig weiter in den digitalen Raum, also das Internet, verlagern.
So wird auch die Plattform der nächsten Influencer-Generation Internet heißen.
Kein Versionssprung ohne Opfer – Wer wird auf der Strecke bleiben?
Wir befinden uns meiner Meinung nach kurz vor oder am Wendepunkt der Generation Influencer 2.0. Auch wenn viele Unternehmen jetzt erst auf den Influencer-Marketingzug-anno-2018 aufgesprungen sind, befindet sich die Branche längst schon im Wandel.
Die Schere großer Makro-Influencer und kleiner Mikro-Influencer wird immer größer; die Mitte immer bemittleidenswerter.
Eine Erklärung. Es gibt grob gesprochen zwei Wege, um erfolgreicher Influencer zu werden und davon leben zu können. Erstens ist man in einer der großen Nischen (Fitness, Beauty, Fashion, mit Einschränkungen: Gaming) zu Hause und setzt sich dort gegen die erschreckend hohe Vielzahl anderer Influencer durch. Zweitens sucht man sich eine kleine Nische und besetzt diese als Nummer eins. Diese kleine Nische muss jedoch das Potenzial haben, um dort Geld zu verdienen.
Was wir jetzt schon sehen – und in Zukunft stärker sehen werden – ist eine Konzentration der Reichweite. Das heißt, dass immer weniger Influencer in Zukunft vom Dauerbespielen der gängigen Social Media-Plattformen werden leben können. Immer weniger Influencer werden immer mehr Reichweite bekommen, halten und vermarkten können.
Der Rest? Wird auf der Strecke bleiben.
Goldgräberstimmung nennt man das, was wir aktuell im Online-Marketing sehen. Viele träumen davon Influencer zu sein, heute nach Bali und übermorgen zum Coachella zu jetten. Doch wie im Goldrausch des 19. Jahrhunderts (und in vielen anderen Beispielen aus der Geschichte) gilt:
An der Spitze es eng und kein Platz für die breite Masse.
Kurzfristig wird es immer weniger Influencer 2.0 geben, die davon leben können. Mittelfristig, während des Übergangs von 2.0 zu 3.0, werden es wieder mehr (Goldgräberstimmung). Langfristig wieder weniger. Geschichte wiederholt sich. Auch im Internet.
Künstliche Intelligenz, Influencer der Zukunft?
Bisher sind wir davon ausgegangen, dass die Beeinflusser der Zukunft Menschen sein würden. Doch warum eigentlich? Aus wirtschaftlicher Sicht sind Maschinen Menschen vorzuziehen; sie sind (sobald massentauglich) günstiger und brauchen keinen Kummerkasten.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Influencer der Zukunft nicht-menschlich sein werden. Künstliche Intelligenzen könnten so programmiert sein, dass sie in menschlicher Gestalt auftreten und Virtuelle Realitäten bevölkern, wo sie dann Menschen beeinflussen.
Einmal programmiert, können sie dazulernen und immer bessere Werbebotschaften senden, die per Abgleich mit definierten wirtschaftlichen Messgrößen optimiert werden. Künstliche Intelligenz hat das Potenzial Konsumgeilheit in menschenunmöglichem Maße zu maximieren, weil sie besser als jeder Mensch wissen kann, was wir wollen, bevor wir es wollen.
Was für manche Marketer verlockend klingt, könnte zum Albtraum werden.
Denn was wir bisher auch nicht bedacht haben: Wir sprechen die ganze Zeit nur von Konsum im Kontext mit Influencern. Doch Beeinflussung findet nicht nur bei Kaufentscheidungen statt. Stell dir nur vor, was ein außer Kontrolle geratener Influencer 3.0 in Form einer Künstlichen Intelligenz für einen Schaden anrichten könnte, wenn er Menschen gegeneinander radikalisiert.
Influencer, die die Welt stattdessen braucht
Niemand bestreitet ernsthaft, dass wir eine Revolution erleben. Die digitale Revolution bietet Chancen und Risiken, ist Grund für hitzige Diskussionen, verwirrte Gesichter und Angst. Und es ist eine Zeit, in der wir Menschen brauchen, die vorleben, wohin die Reise gehen soll.
Wo stehst du in dieser Revolution?
Jede Revolution bringt Zeugen, Revolutionäre und Opfer hervor. Rate mal, welche Rolle unsere ist. Zeugen sind wir schon mal nicht, denn ein Zeuge greift nicht aktiv in ein Geschehen ein, er beobachtet nur. Revolutionäre sind wir in jedem Fall, denn wir sind aktiv an der Revolution beteiligt. Wenn du dir dessen nicht bewusst bist, dann erinnere dich nur an den gestrigen Tag.
Wie oft hast du dein Smartphone aufgehoben, um kurz was zu checken? Was hast du getan, als du auf dem Weg zur Schule, Universität oder Arbeit warst? Auf welchem Weg hast du die eine längst überfällige Überweisung getätigt? Woher hattest du die letzten News?
Opfer sind bisher nur die wenigsten von uns. Doch die Chancen stehen gut, dass in den kommenden Jahren Menschen aus deinem direkten Umfeld der digitalen Revolution zum Opfer fallen werden. Ihre Jobs werden durch Selbstscanner-Kassen und Künstliche Intelligenz ersetzt; sie sabotieren ihre kognitiven Fähigkeiten heute, weil der süße Duft der allgegenwärtigen Unterhaltung verlockender ist, als in zehn Jahren noch einen Rest Aufmerksamkeitsspanne zu haben; Beziehungen werden zerstört, Menschen werden vereinsamen, längst niedergerissene Mauern werden wieder errichtet.
Kurzum: Es könnte eine Menge Opfer geben.
Die digitale Revolution und ihre Möglichkeiten
Auf der anderen Seite birgt jede Revolution die Möglichkeit, Dinge besser zu machen. Wir haben bereits gesehen, dass jeder, der aktiv Technologien nutzt, ein Revolutionär ist. Nicht nur die Ingenieure im Silicon Valley gestalten die Zukunft, sondern auch du und ich, indem wir uns täglich für oder gegen gewisse technologische Angebote entscheiden.
Diese täglichen, kleinen Entscheidungen sind es, die im Endeffekt darüber entscheiden werden, welche Art von Revolutionären wir sein werden. Werden wir von künftigen Generationen für unsere Taten verachtet oder gefeiert werden? Ich bin dafür, dass wir Letzteres anstreben.
Es wird ein Weg des selbstbestimmten Handelns und einer, auf dem wir das Meckern anderen überlassen. Wir wollen Aktive Revolutionäre für eine bewusste Digitalisierung werden. Auf dem Weg dahin kümmern wir uns um drei zentrale Lebensbereiche: Beziehungen, Arbeit und Bildung und unser Selbst.
Ich bin mir darüber im Klaren, dass die digitale Revolution nur einen guten Ausgang nehmen kann, wenn Entscheidungsträger aller Art und Ingenieure der Technologiekonzernen, die Wirtschaft im Allgemeinen, aber auch jeder Einzelne an einer besseren Zukunft mitgestalten.
Wir wollen nicht in ein Abhängigkeitsverhältnis driften und auf Hilfe von außen hoffen – die wird vielleicht nie oder zu spät kommen. Revolutionen geschehen nicht, sie werden gemacht. Lass uns diese globale und zukunftsträchtige Revolution gemeinsam gestalten und uns heute nicht nur für ein besseres Morgen aussprechen und es verlangen, sondern auch so zu handeln.
Wir wollen doch keine überdigitalisierte Welt, in der das Menschsein der Klick- und Like-Maximierung unterworfen wird. Wir wollen kein Nullen- Einsen-Dogma. Lass uns stattdessen ein digitalisiertes Utopia schaffen. Dafür brauchen wir Menschen, die den Ausgang der digitalen Revolution beeinflussen. Sei ein Beeinflusser eines besseren Morgens, ein Influencer, den die Welt jetzt dringend braucht.
Bis bald
Jan
Mara meint
Hallo Jan,
Danke für den interessanten Artikel. Ich denke, dass wir die maschinellen „Influencer 3.0“ an vielen Stellen bereits haben, da es eben auch eine Beeinflussung ist, was uns ein Algorithmus anzeigt und was nicht.
Hast du den Film „The Cleaners“ gesehen? Der zeigt sehr viele spannende und auch erschreckende Aspekte der Sozialen Medien auf. Vielleicht wäre der Film ja auch ein gutes Thema für eine Podcast-Folge?
Sonnige Grüße
Mara
Jan Rein meint
Hi Mara,
danke für deine Gedanken zu dem Thema! Du hast absolut recht: Algorithmen und Künstliche Intelligenz sind heute schon weit verbreitete Influencer (Google, Facebook etc.) und wir dürfen gespannt sein, wie es in Zukunft weiter geht. Den Film kenne ich tatsächlich noch nicht. Ist aber definitiv notiert!
Liebe Grüße
Jan
Ingrid meint
Besser kann man kein Menschenbild zeichnen, das von Unmündigkeit und maximaler Beeinflussbarkeit des Menschen geprägt ist. Die skizzierte Gefahr, Menschen würden aufgrund von Botschaften von InfluencerInnen völlig unreflektiert zu destruktiven Verhalten angeleitet werden können, widerspricht gerade dem postulierten Ideal, dass Menschen im Grunde die Fähigkeit haben, selbst zu gestalten. Zusammenfassend hat dieser Beitrag bei mir Folgenden Eindruck erweckt: Überspitze ein Problem und biete die Lösung, um dadurch Aufmerksamkeit zu generieren. Dieser Beitrag widerspricht sich im Grunde selbst, da er kritisches, freiheitsliebendes Denken als Lösung präsentiert, gleichzeitig aber den Menschen als jederzeit zu jeder Tat beeinflussbar erscheinen lässt. Ein stärkeres Menschenbild wäre da schon die Lösung, aber wahrscheinlich zu wenig Problem…
PS: Künstliche InfluencerInnen werden niemals Menschen ersetzen. Wir bleiben Menschen.